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Provokation zur Auseinandersetzung mit grosser Kunstfertigkeit

Kelly Grovier, Wie Banksy die Kunst rettete, (How Banksy saved Art History, übers. von Claudia Koch), Midas Verlag AG, Zürich 2024, 208 Seiten, Hardcover, sFr 39.—

© Linda Rosa Saal

Ist jemand, der Wände, die nicht ihm gehören, mit schwarzer oder bunter Farbe besprüht, ein Vandale oder ein Künstler? Höhlenmalereien stehen zusammen mit Venusfigurinen oder Skulpturen wie dem Löwenmenschen von der Schwäbischen Alb am Beginn menschlichen Kunstschaffens. Das schiere Alter von mehreren zehntausend Jahren verschafft ihnen ehrfurchtgebietende Beachtung. Banksy bringt eine Nachbildung solcher Gemälde von Wildrindern, Antilopen und einem Wollnashorn, gejagt von Menschen, die als Strichmännchen abstrahiert sind, auf zeitgenössischen Häuserwänden an. Und er stellt ihnen die kolorierte Schablonenzeichnung («Stencil») eines städtischen Reinigungsfachmanns zur Seite, der mit einem Dampfstrahler die «Schmierereien» von der Wand entfernt.

Gewiss hängt es auch von den Motiven ab, ob an der Wand Schmierereien oder Kunst zu sehen sind. Ob es sich um den kriminellen Akt der mutwilligen Sachbeschädigung handelt oder um bedeutungsvolle Wandlung eines zuvor beliebigen Untergrunds. Wer immer nur Initialen in einer poppigen Kalligraphie aufträgt, der will eher provozieren und sich mit Gleichgesinnten verständigen, als dass es ihn zu künstlerischem Schaffen drängt. Wer die akribische Vorbereitung und die sorgfältige Umsetzung der Werke eines Harald Nägeli, des Sprayers von Zürich, nachvollzieht, dem ist schnell klar, dass es bei ihm zwar auch um Provokation geht, aber zugleich um notwendige Kunst.

Die grosse Plastik des Denkers von Auguste Rodin, die gemalten Sonnenblumen von Vincent van Gogh oder das Foto der sechs Soldaten, die auf der Insel Iwojima ein Sternenbanner hissen, während die Kämpfe toben, die fast 7’000 US-Amerikaner und mehr als 20’000 Japaner das Leben kosteten – diese «Vorlagen» für Werke Banksys kennt sicherlich jede/r, die oder der sich für Kunst ein wenig interessiert. Aber Banksy orientiert sich nicht bloss an Kunstwerken, die allgemein bekannt sind.

Giovanni Battista Lombardi hat Mitte des 19. Jahrhunderts das Gesicht der Skulptur einer trauernden jungen Frau mit einem Schleier aus Marmor überzogen. Die Konturen des Gesichts sehen zu lassen und zugleich hinter dem steinernen Gewebe zu verhüllen ist höchste Bildhauerkunst. Auf der Türe, die in den Konzertsaal des Pariser Musikclubs Bataclan führt, in dem islamistische Terroristen 89 Besucher/innen eines Rockkonzerts ermordet haben, hat Banksy eine trauernde Frau dargestellt, die einen Schleier trägt, der demjenigen nachempfunden ist, den Lombardi gemeisselt hat.

Nicht nur die Ikonen der europäischen Kunst wirft Banksy an Wände und verwandelt beides damit, die Bilder und auch die Wände. Er spielt auf die Mona Lisa und auf eine der bekanntesten Kreuzigungsszenen an. Dabei kann er sich darauf verlassen, dass jeder weiss, wie das Original aussieht und dass es bedeutend ist. Banksy gestaltet auch den Ort eines Terror-Anschlags, die Eingangstüre zum Bataclan, zum Mahnmal um, indem er eine grossartige Trauernde als Stencil anbringt, die bis dahin ausser Kunsthistorikern kaum jemand kannte. Ob er die Kunst damit rettet, sei dahingestellt. Aber er regt zur Auseinandersetzung mit grosser Kunstfertigkeit an. Und das ist kein geringes Verdienst.

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